Monday, December 23, 2019

Das Rentier kehrt zurück -- Eine Weihnachtsgeschichte


Seasons Greetings! I wish that I could offer everyone an extravagant gift, but I’m just a starving writer. As such, I decided to write a Christmas story, “Reindeer to the Rescue.” This is my gift for this year. It is offered in the spirit of the holidays, complete with the typical holiday tropes. I have already posted this story in English, but here is the Deutsch Sprache version for my friends on this side of the Pond.

Liebe Grüße und Frohe Weihnachten,
Marco



Das Rentier kehrt zurück
Eine Weihnachtsgeschichte
von Marco Etheridge

Ein dickbäuchiger Mann saß am Ende des Tisches, auf seinem kahlen Kopf schimmerten kleine Schweißperlen. Im Kamin knackten Holzscheite, und der Raum war warm. Der Mann glättete seinen buschigen Bart, der über seinem weißen Feinripphemd hing, und blickte den langen Holztisch entlang. Zehn Stühle standen um den Tisch, auf jedem saß eine winzige grün gekleidete Gestalt. Der dicke Mann schüttelte den Kopf, seufzte, und erhob seine Hände.
„Ich denke wir sollten beginnen. Ich wünschte ich könnte die Besprechung mit guten Nachrichten einleiten, die habe ich jedoch nicht. Ihr seid alle erfahrene Elfen. Wir sind seit Anbeginn zusammen, also braucht es kein Schönreden. Wenn wir nicht drastische Maßnahmen ergreifen, wird es das letzte Weihnachten für uns als Team gewesen sein.“
Der dicke Mann ließ seine Hände auf den Tisch fallen. Er sah zu seinen Elfen, einer nach der anderen, und sie zu ihm. Keine der Augen blinzelten. Die Elfe zu seiner Rechten rutschte auf ihrem Stuhl.
„Glaubst du wirklich, dass es so schlimm ist, Boss? Ich meine, ich weiß dass die letzten Jahre hart waren, aber sind wir wirklich schon so weit das Halstuch zu werfen?“
„Die Spielzeugindustrie zerstört uns, Pepper. Kinder wollen kein selbstgemachtes Spielzeug mehr. Was sie wollen ist billige Plastikware von SpielMobil und SpielzeugSindWir. Eltern müssen nicht bis Weihnachten warten. Ein Klick auf dem Computer genügt, und Bingo! Gratis Lieferung in zwei Tagen, ohne eine Liste an den Weihnachtsmann zum Nordpol schicken zu müssen. Du fragst ob es wirklich so schlimm ist? Sie machen uns zunichte. Wir sind überflüssig geworden, obsolet.“
Ein Raunen ging durch den Raum.
„Und als wäre das noch nicht genug, bekomme ich schon Drohbriefe von Anwälten aus der Thanksgiving-Truppe. Sie beschuldigen uns des unrechtmäßigen Eingriffs. Als wäre der Black Friday unsere Idee gewesen! Wer nennt einen Feiertag auch 'Schwarzer Freitag'? Das klingt doch mehr nach einem neuen Börsencrash.“ Eine ältere Elfe zur Linken räusperte sich.
„Snowball, du möchtest etwas sagen?“
„Ich erwähne es ungern, Chef, aber die Verdrängung durch die Konzerne hat massiv zugenommen seit wir die Rentiere gefeuert und die Lieferung an DHL abgegeben haben.“
Der dicke Mann fasste sich mit seiner plumpen Hand an die schweißnasse Stirn.
„Ich weiß, ich weiß. Herrje, erinnere mich bloß nicht daran. Damit hat der ganze Schlamassel begonnen. Ich muss zu viele Rumpflaumen gegessen haben als ich diese Entscheidung traf.“
Der Weihnachtsmann blickte zum anderen Ende des Tisches.
„Ja, Bushy, sprich.“
„Möchtest du dennoch die Statistik der Braven und Unartigen haben?“  
„Ich glaube nicht, aber lass sie uns trotzdem hören.“
„Ich bin die Zahlen mehrere Male durchgegangen, und das Ergebnis ist immer dasselbe: die Zahl der Unartigen war noch nie so hoch. Wenn das hier ein Pferderennen wäre, 'Brav' wäre ein dreibeiniges, blindes Pferd, und 'Unartig' wäre Pegasus.“
Der Weihnachtsmann warf Bushy einen prüfenden Blick zu.
„Warst du etwa wieder auf der Rennbahn?“
Bushy zuckte mit den Schultern.
„Eine Elfe muss sich auch irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen, Boss.“
Der Weihnachtsmann wedelte mit den Händen, so als ob er damit schlechte  Gedanken verscheuchen wollte.
„Jetzt ist es aber genug. Die Frage ist, wie wir wieder zurück ins Spiel kommen! Was uns zum nächsten Punkt, Operation Rentier, führt. Pepper, wie geht die Teamzusammenstellung voran?“
Die Elfe öffnete eine rote und eine grüne Mappe.
„Es gibt gute und schlechte Nachrichten, Boss. Wir haben Dasher, Dancer, Prancer, Comet und Cupid. Sie sind hier am Nordpol und scheinen in ziemlich guter Kondition zu sein. Vixen hat noch ein paar persönliche Angelegenheiten zu klären. Donner und Blitzen haben wir in einem Aschram in Indien gefunden.“
„Einem Aschram? Warte, nein, erzähl es mir lieber nicht. Schaff sie einfach hierher. Was ist mit Rudolph?“
„Das ist die schlechte Nachricht. Wir haben Späher in alle Richtungen ausgeschickt, aber niemand kann ihn finden.“
„Diese alberne Rotnase ist eines unserer Markenzeichen. Er muss mit dabei sein, oder wir sind am Ende.“
Der dicke Mann schlug derart mit seiner wulstigen Hand auf den Tisch, dass die  Elfen alle aufsprangen.
„Hört zu ihr Elfen, wenn ihr nicht als eierbemalende Tagelöhner beim Osterhasen landen wollt, schlage ich vor, ihr findet Rudolph.“

Ein schummriger, subarktischer Lichtstrahl drang in die kleine Hütte. Sein schwacher Schein fiel auf einen billigen Couchtisch und erleuchtete dabei eine leere Wodkaflasche. Eine Kaffeetasse lag neben der Flasche, ihr Rand verklebt mit einer Kruste aus getrocknetem Eierlikör. Von einem niedrigen Bett in der Ecke kam ein schnarchendes Geräusch, unregelmäßig und abgehackt. Das gurgelnde Geräusch stieg und fiel, und mit jedem Anstieg leuchtete ein roter Schimmer auf.
Vor der Hütte knirschten schwere Stiefel in tiefem Schnee. Das Knirschen hörte abrupt auf, und wurde abgelöst vom Geräusch einer gegen die Eingangstür schlagenden Faust. Das Klopfen war unnachgiebig, und drang selbst in die dunklen Träume der schnarchenden Gestalt. Das Geschnarche kam ins Stocken und hörte schließlich auf. Aus der Dunkelheit drang ein lautes Stöhnen und kaum vernehmbare Worte.
„Geh weg.“
Das Klopfen hörte jedoch nicht auf.
Ein dunkler Schatten in Form eines kleinen Rentiers erhob sich träge aus dem Bett. Das Tier senkte sein Geweih, zielte auf die Tür und sprang los. Es stolperte prompt über den Couchtisch, warf ihn um, und landete unsanft vor der Eingangstür. Das Klopfen hörte auf, und eine piepsende Stimme drang in die Hütte.
„Rudolph, bist du es?“
Das benebelte Rentier hob seinen Kopf.
„Kannst du das Schild nicht lesen? Draußen bleiben! Das ist sehr verständlich, oder nicht?“
„Ich sehe aber überhaupt kein Schild.“
„Oh, naja..., ich war dabei eins aufzuhängen, also geh schon weg.“
„Rudolph, mach die Tür auf und lass mich rein. Der Rote Mann hat mich geschickt. Komm schon, Rudi, ich frier mir meinen Allerwertesten ab.“
Ein Hauch von Erinnerung erwachte in Rudolphs trübem Gehirn.
„Benny, bist du das? Was zum Kuckuck machst du denn in Finnland?“
„Was denkst du denn das ich hier mache? Der Boss schickt mich. Wir bringen das Team wieder zusammen und wir brauchen dich. Jetzt öffne schon die Tür.“
Rudolph erhob sich mühsam vom Boden und langte zur Türschnalle. Ohne auf das Eintreten seines Gastes zu warten, schleppte er sich zu einer zerlumpten Couch und rollte sich auf fleckigen Laken zusammen.
Benny die Elfe warf die Tür hinter sich zu. Er wickelte den Schal von seinem Gesicht und rümpfte angewidert die Nase.
„Heilige Weihnachtsgans, Rudi, hier stinkt es gewaltig.“
Rudi schwenkte ein Huf in der Luft.
„Mein Rehlein, Claire, hat mich vor ein paar Wochen verlassen. Sie hat die Kinder zusammengepackt und ist zu ihrer Schwester gezogen. Kann sein, dass ich den Haushalt ein wenig vernachlässigt habe.“
Benny machte zwei Schritte in den Raum und stolperte über die leere Wodkaflasche. Es gelang ihm, sich gleichzeitig auf den Beinen zu halten und zu fluchen. Das verkaterte Rentier auf der Couch schaute nicht einmal auf.
„Um Himmels Willen, Rudi, das ist nicht alles was du vernachlässigt hast. Du siehst aus wie der Tod auf verschimmeltem Brot. Was zum Teufel machst du eigentlich in Finnland?“
Rudolph blickte mit einem halbgeöffneten Auge zu der Elfe.
„Ich bin ein Rentier, Benny. Gibt es für ein Rentier einen besseren Ort zum Verstecken als hier?“
Die Elfe zuckte mit den Schultern.
„Okay, blöde Frage. Wohnt deine Schwägerin denn in der Nähe?“
„Fairbanks, Alaska.“ antwortete Rudolph, mit einem Huf in der Luft.
„Das hier scheint nicht leichter zu werden, oder? Okay, vergiss es. Wir haben dich monatelang gesucht, und das war keine einfache Angelegenheit. Santa hat mich geschickt um dich abzuholen, und er ist nicht in der Stimmung, ein nein zu akzeptieren. Du musst dich jetzt zusammennehmen und mit mir mitkommen. Draußen steht ein schöner, warmer Wagen und in Helsinki wartet schon das Flugzeug auf uns.“
Rudolph schüttelte nur den Kopf und lachte bitter. Seine Nase flackerte und warf dabei einen roten Schein über sein mitgenommenes Gesicht.
„Ist es Santa schon in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht gar nicht gefunden werden wollte? Abgesehen davon bin ich nicht in der Verfassung, irgendwohin zu gehen, falls du das noch nicht bemerkt hast. Und dort angekommen wäre ich für niemanden von Nutzen.“
„Darüber mache ich mir keine Gedanken, Rudi. Der Rote Mann hat mir aufgetragen, dich zu finden und zurückzubringen. Zuerst putzen wir dich ein wenig heraus, und dann überlegen wir uns, was wir wegen Claire und den Kindern unternehmen. Zur Zeit sehen die Dinge nicht so rosig aus in der alten Heimat, also was hast du zu verlieren?“
Rudolphs Augen streiften über das Chaos in der Hütte.
„Naja, vielleicht hast du Recht. Sag mal, gibt es in dem alten Flugzeug immer noch eine Bar?“
„Natürlich, Santa genehmigt sich gern hie und da einen feierlichen Tropfen. Warum fragst du?“
„Weil wir sie brauchen werden.“
„Rudi, es sind nur drei Stunden bis zum Nordpol.“
„Eben.“
Benny massierte sich mit seinen behandschuhten Fingern den Rücken seiner spitzen Nase. Für einen langen Augenblick stand er mit geschlossenen Augen da, als würde er an bessere Zeiten denken. Dann hob er seinen Kopf und atmete bedächtig aus.
„Brauchst du etwas Zeit zum Einpacken oder so?“
„Ich bin ein Rentier, Benny, was habe ich denn schon zu packen?“

Die Schlittenhalle stand am Rande des Nordpolkomplexes. Sie war lang und innen offen, mit einem gewölbten Dach und breiten Holztoren die weit zur Seite rollten. Eine Ansammlung von großen roten Schlitten stand in einer Reihe unter dem gezimmerten Holzdach. Rentiergeschirre hingen an den mit Holzpaneelen versehenen Wänden.
Neun Rentiere standen in einem lockeren Halbkreis im schattigen Hangar. Hufe klackten nervös auf dem Steinboden. Rudolph stand hinter den anderen und fühlte sich hilflos und verängstigt.
Der Nordpol war so wie er ihn in Erinnerung hatte, und dennoch fühlte sich alles seltsam an und fremd. Zu viele Jahre waren vergangen, zu vieles hatte sich verändert. Rudolph schüttelte den Kopf, und ging in Gedanken alles durch.  Erst kam der Schock, als der Weihnachtsmann das Team auflöste. Die nächsten Jahre verbummelte er dann am Nordpol bis ihm das gezimmerte Dach auf den Kopf fiel.
Finnland schien eine gute Option zu sein. Rudolph bemühte sich zu integrieren und an die normalen Rentiere anzupassen. Für einige Jahre funktionierte es. Er hatte einen Job, eine nette kleine Hütte und ging mit einem süßen Reh namens Claire aus.
Rudolph gelang es, ein normales Rentier vorzugeben, sogar als die Kinder zur Welt kamen, aber es war alles nur gespielt. Er wusste, dass es nicht echt war, und Claire wusste es auch. Rudolph begann wieder ein wenig zu fliegen, immer im Geheimen, und immer nachdem er getrunken hatte. Das Ergebnis war verheerend. Immer öfter kam Rudolph ganz zerfleddert und frustriert nach Hause, während Claire immer besorgter wurde.
Eine dröhnende Stimme unterbrach Rudolphs Gedanken. Ein dickbäuchiger Mann in einem roten Fliegeranzug schritt durch das offene Eingangstor. Ein Kader von Elfen folgte ihm auf den Fersen, jede bekleidet mit einem grünen Overall. Der Weihnachtsmann machte vor den Rentieren Halt. Eine unangenehme Stille verbreitete sich im Raum. Hufe scherten, da und dort war ein Räuspern zu hören. Der dicke Mann ließ einen schweren Seufzer aus und begann zu sprechen.
„Willkommen zurück am Nordpol. Es ist wunderbar euch alle zu sehen.“
Er warf einen kurzen Blick auf seine Notizen, dann schüttelte er den Kopf. Er warf das Klemmbrett zu einer der Elfen und drehte sich mit einem traurigen Lächeln zu den Rentieren.
„Wir kennen einander nun seit vielen Jahren, zu lange für irgendwelche vorgefertigten Reden. Ich möchte mich bei jedem einzelnen von euch für das Auflösen des Rentierteams entschuldigen. Meine Absicht war gut, aber das Ergebnis war desaströs. Ich habe nicht nur dem Team geschadet, sondern auch Weihnachten.“
Ein hübsches Rentier meldete sich zu Wort.
„Boss, das ist doch alles Schnee von gestern. Im Moment ist Weihnachten in Gefahr. Wie sieht denn der Plan aus?“
Der dicke Mann schaute hinab auf seine frisch polierten Stiefel und rieb sich dabei mit seinen pummeligen Fingern die Augenlider. Als er den Kopf hob, glänzten seine Augen.
„Danke, Vixen, direkt auf den Punkt gebracht, wie immer. Ja, Weihnachten ist in Gefahr. Dieses könnte unser letztes Jahr werden, aber ich will nicht aufgeben bevor wir es noch einmal versuchen. Noch ein Flug, noch eine Chance, die Welt daran zu erinnern, was Weihnachten wirklich bedeutet.“
Das größte Rentier kippte sein Geweih zur Seite.
„Ja, Donner?“
Das Rentier sprach mit einer tiefen, klangvollen Stimme.
„Wir sind alle mit dabei, Chef, sonst wären wir nicht hier. Aber wir haben seit zwanzig Jahren keinen Schlitten mehr gezogen. Wir sind alle etwas eingerostet, einige mehr als andere.“
Da kam ein Husten und ein Scheren von Hufen aus dem hinteren Teil der Gruppe.
„Wir haben das schon untereinander diskutiert. Wir Rentiere sind bereit, es zu versuchen, aber ich denke dass es besser wäre, endlich mit dem Üben zu beginnen, als hier im Hangar herumzustehen.“
Der Weihnachtsmann klatschte seine Hände zusammen.
„Du hast Recht, Donner, genug gelabert. Wir haben nur sechs Wochen bis zum Heiligen Abend. Wir werden erst mit ein paar Aufwärmrunden beginnen, dann machen wir weiter mit dem Abflug und ein paar solo Flügen. Formationsfliegen wird etwas später dran kommen. Okay, wir haben das alle schon mal gemacht, also lasst und loslegen!“
Der Weihnachtsmann drehte sich um und schritt zum offenen Tor, der Elfenkader an seinen Fersen. Die Rentiere folgten, Rudolph schlurfte als letzter hinterher.
Sie trainierten unter dem beständig klaren Sternenhimmel des Nordpols. Die Rentiere sprangen und stolperten, stiegen auf und schwankten, und Weihnachten rückte immer näher.
In einer dieser langen, kalten Nächte stand der Weihnachtsmann da und beobachtete die Rentiere. Er sprach zu der Elfe neben ihm.
„Und, Pepper, wie machen wir uns nach mittlerweile vier Wochen?“
Die Elfe überflog die Notizen auf ihrem Klemmbrett bevor sie antwortete.
„Donner und Blitzen machen eine ziemlich gute Figur. Sie waren immer die stärksten, das ist also keine Überraschung. Vixen hat ein paar gute Bewegungen drauf, beinahe wie in alten Zeiten. Dasher ist robust, und Prancer tänzelt zwar nicht gerade, aber sie machen beide Fortschritte. Comet und Cupid werden auch schön langsam warm, aber sie brauchen noch etwas Zeit.“
Santa nickte bedächtig und blickte starr hinaus über den glitzernden Schnee, der sich gegen die dunkle Nacht abhob.
„Und eben das haben wir nicht, Pepper; Zeit. Es sind nur noch zwei Wochen bis Weihnachten, und morgen haben wir den ersten Testflug mit einem Schlitten. Wie geht es unserem rotnasigen Rentier?“
„Naja, Boss, er scheint sich vom Eierlikör fernzuhalten, was sehr hilfreich ist. Im Moment sind acht von zehn Starts erfolgreich. Vielleicht sollte ich morgen den Testflug lenken, um das Gewicht gering zu halten und so. Nichts für ungut, Boss.“
„Ho, ho, ho! Alles klar, Pepper. Bist du sicher dass du das machen willst?“
„Nur keine Sorge, ich werde meinen Sturzhelm aufsetzen.“

Rudolphs Herz klopfte wie wild in seiner Brust. Sternenlicht reflektierte in den silbernen Schnallen seines Geschirrs, das von den Schultern bis zum Rücken lief. Hinter ihm standen acht Rentierpaare in lederne Stränge gespannt. Schnee knirschte unter ihren Hufen, und Leder knarrte in der frostigen Luft. Pepper die Elfe saß auf der Schlittenbank, die Zügel in der Hand. Ein leuchtend grüner Sturzhelm war eng auf seinen Kopf geschnallt. Peppers Stimme schallte vom Schlitten.
„Denkt daran, es ist nur ein einfacher Testflug. Nichts Ausgefallenes, okay? Wir gehen hoch, ziehen ein paar Kreise um den Komplex, und kehren mit einer sanften Landung zurück. Seid ihr alle bereit?“
Das Geschirr klimperte als die Rentiere im Schnee scharrten. Pepper hob die Zügel.
„Okay, Rudolph, zieh uns hoch!“
Rudolph zog schwer gegen das Geschirr, während seine Hufe Schnee verstäubten. Die Rentiere hinter ihm machten dasselbe. Das Geschirr zog sich enger, und der Schlitten glitt über den Schnee. Sie rannten nun, schneller und schneller. Rudolph stieß sich mit seinen Hinterbeinen ab und streckte seine Vorderbeine in den Himmel.
Zwischen seinen Hufen sah Rudolph die schneebedeckte Landschaft verschwinden. Das Geschirr hinter ihm zog gleichmäßig, und er wusste dass der Schlitten ebenso in der Luft war.
Ein Funke Hoffnung entfachte in Rudolphs Herz, nur um gleich wieder erlöscht zu werden von einer Welle aus Zweifel und Angst. Sie durchströmte ihn, dunkel und bedrohlich, und betäubte seinen Verstand. Seine Konzentration war gebrochen, und seine Hufe begannen zu wanken.
Rudolphs Vorderbeine taumelten in der Luft, und er steuerte hart nach rechts. Er versuchte verzweifelt seinen Kurs zu korrigieren. Der Zug der Rentiere folgte ihm schwankend nach. Hinter ihnen schaukelte der Schlitten vor und zurück in der kalten Nacht.
Pepper wurde beinahe vom Schlitten geworfen. Die Zügel fielen aus seinen Händen als er sich am Schlittengelände festklammerte. Nach links kippend, mit wild zappelnden Hufen in der Luft, fiel der gesamte Zug vom Himmel.
Nur eine große Portion Glück und eine massive Schneewehe rettete die Mannschaft vor dem totalen Desaster. Rudolph steuerte direkt in den weichen Schneehaufen, gefolgt von den anderen Rentieren und dem Schlitten. Eine riesige Schneewolke stieg in den Sternenhimmel. Ein mit Elfen besetzter Abschleppwagen rollte aus dem Hangar. Glöckchen läuteten in der Dunkelheit als der Wagen Richtung Schlittenwrack rumpelte.
Die Rettungselfen schaufelten die Rentiere aus dem Schneehaufen und befreiten sie vom verhedderten Geschirr. Der Schlitten wurde an den Abschleppwagen gehängt. Eine traurige Prozession machte sich langsam auf den Weg zurück zum Hangar. Die Elfen zogen den abgestürzten Schlitten, und hinter ihnen torkelten die Rentiere. Als letzter kam Rudolph, sein Geweih tief gesenkt.

Als sich die Aufregung rund um den Absturz ein wenig legte, zog sich Rudolph in einen einsamen Winkel in der Schlittenhalle zurück. Er kauerte zusammengerollt auf einem Stück alten Teppich und starrte auf den zerstörten Schlitten.
Die Stille wurde unterbrochen vom Knarren einer Holztür, und dem unverkennbaren Klang von Hufen auf Steinboden. Es war Donner, der sich neben Rudolph hinsetzte; das stärkste Rentier im Team. Aus Angst, was das größere Rentier zu sagen hatte, begann Rudolph als erster zu sprechen.
„Es tut mir leid, Donner, ich habe es vermasselt und den Flug total verhaut.“
Donner sah Rudolph an, sein gewaltiges Geweih zur Seite gekippt.
„So siehst du es also?“
„Natürlich, ich bin gestolpert und habe alle anderen mit runtergezogen.“
Donner betrachtete eine Weile den Schlitten, so als ob er seine Worte abwägen wollte.
„Das ist nicht was ich gesehen habe, Rudolph. Wenn das Leitrentier stolpert, müssen das die starken Zugtiere, das nächst folgende Paar, ausgleichen, bis das Leittier wieder auf die Beine kommt. Das zweite Paar schützt den Ersten, und so weiter, der Reihe nach bis nach hinten.“
„Aber du und Blitzen wart hinter mir.“
„Genau, und wir haben dich hängen lassen. Blitzen ist dir nachgelaufen, und ich habe den Zug lockergelassen. Und das Ergebnis war, dass ein kleiner Fehler außer Kontrolle geraten ist und das ganze Team mitgezogen hat.“
„Ja, und mein Fehler war es, der die ganze Sache ins Rollen gebracht hat.“
„Fehler passieren. Was zählt ist wie wir damit umgehen. Das war nur ein Übungsflug, unser erster gemeinsamer Flug in zwanzig Jahren. Niemand wurde verletzt, und der Schlitten kann repariert werden. Du musst darüber hinwegkommen, okay?“
„Ja, aber...“
„Warte, lass mich dir eine Geschichte erzählen. Vor einigen Jahren habe ich eine wichtige Lektion gelernt. Ich war immer ein starkes Zugtier in der Reihe, sogar als ich noch ein Frischling war. Ich war sehr stolz auf meine Stärke, doch hat mich dieser Stolz auch geblendet. Eines Tages wurde ich mit einer schwierigen Situation konfrontiert, in der mir Stärke allein nicht weiterhalf. Um die Aufgabe erledigen zu können, wurden andere Fähigkeiten benötigt. Und wie sich herausstellte, kam dieses Talent vom kleinsten und jüngsten Mitglied der Mannschaft.“
„Wow, hast du das etwa im Aschram gelernt?“
Das große Rentier grinste.
„Nein, das habe ich von dir gelernt, Rudolph. In jener nebligen Nacht vor vielen Jahren, als der Weihnachtsflug beinahe abgesagt werden musste, hast du alles gerettet.“
Donner erhob sich zu seiner vollen Größe und dehnte dabei seine Hinterbeine.
„Ich werde mich jetzt besser zurückziehen. Wir machen morgen wieder einen Testflug und ich muss bei vollen Kräften sein. Wir sehen uns in der Früh.“
Rudolph beobachtete Donner wie er über die Steinplatten schritt und durch das Tor verschwand. Er fühlte Donners gütige Worte noch in der Luft hängen, und den Hoffnungsschimmer, der erneut in seinem Herzen erwachte.
Die Heilige Nacht war leuchtend und klar. Ein elektrisches Knistern lag in der arktischen Luft. Rudolph stand am vordersten Punkt des langen Rentierzuges, mit acht starken Rentieren hinter ihm. Dünne Dampfschwaden strömten aus ihren Nasenlöchern, vorbei an hohen und stolzen Geweihen. Rudolphs Blick schweifte über die verschneite Startbahn, und seine Nase leuchtete in der Dunkelheit.
Der Weihnachtsmann saß auf der Schlittenbank, herausgeputzt in seinem schönsten Weihnachtsanzug und der besten Mütze. Die mit Fell besetzten Ränder des Anzugs waren sorgfältig aufgebürstet, und das lange Ende der Mütze fiel locker zur Seite. Der Bart des Mannes war gekämmt und gestriegelt, seine Stiefel geputzt und poliert. Der Weihnachtsmann nahm die Zügel in seine behandschuhten Hände, und befühlte ihre Oberfläche.
Der Schlitten war voll beladen mit Geschenken, auch wenn die Rentiere den Eindruck hatten, dass die Ladung diesmal kleiner und leichter war als in vergangenen Jahren. Die Elfen wussten Bescheid, ebenso der Weihnachtsmann, aber sie behielten das Geheimnis für sich. Vixen hatte sich getraut danach zu fragen, als der Schlitten beladen wurde, Santa jedoch gab ihr nur ein kurzes Nicken und Zwinkern zur Antwort.
Die Zügel spannten sich, als sich der Weihnachtsmann zurück in den Schlitten lehnte, und ebenso spannten sich die Muskeln der Rentiere an, als sein schallendes Lachen ertönte. Rentierhufe gruben sich in den Schnee, alles wartete auf sein Kommando.
„Ho, Ho, Ho-Ho! Los, Dasher, los, Dancer...“
Schon presste Rudolph seine Schultern gegen das Geschirr, und die anderen Rentiere taten es ihm gleich. Der Schlitten zischte vorwärts. Eine sprühende Wolke aus Schnee erhob sich hinter dem schneller werdenden Gefährt.
Rudolph spürte die Zügel aus Leder auf seinen Rücken schnalzen, ein vertrautes Zeichen von Santas erfahrener Hand. Er sprang in die Luft, und das gesamte Team sprang hinter ihm her. Sie stiegen in den nächtlichen Himmel auf, die Hufe bewegten sich im Gleichschritt. Der Rentierzug machte eine lange Drehung Richtung Süden, Santa und der Schlitten flogen gleichmäßig hinterher. Und dann, in einem Aufblitzen von Lichtern und Glocken, waren der Schlitten und die Rentiere in die Nacht eingetaucht und verschwunden.

Es war eine magische Nacht, und die Rentiere fühlten sich durchflutet von diesem Zauber. Sie flogen wie eins, umkreisten die ganze Welt, während der Weihnachtsmann lachte und Lieder sang. Der Schlitten fuhr hinweg über entfernte Länder, stets begleitet von dem Geräusch fliegender Hufe und Santas fröhlichem Gelächter. Und wohin sie auch kamen hinterließen sie eine Spur von kleinen Päckchen an Betten, Feuerstellen und Kaminen.
Der Weihnachtsmann und seine Rentiere flogen weiter und schneller als sie jemals geflogen waren. Kein Kind wurde vergessen: Christen Kinder und Chanukka Kinder, Muslime und Buddhisten, Orthodoxe und Kwanzaa Kinder, alle fanden beim Erwachen ein Geschenk, das ihren Morgen erhellte.
Auch die Erwachsenen wurden bedacht. Bauern und Bedürftige, Präsidenten und Premierminister, die Ungezogenen und die Braven; ein kleines, glänzendes Päckchen kam zu ihnen allen. 
Eifrige Finger rissen an der schimmernden Verpackung. Unter dem bunten Papier fanden alle Hände dasselbe Geschenk. Klein genug um in eine Kinderhand zu passen, war da ein geschnitztes Herz. Die Herzen waren aus Naturstein gearbeitet, oder aus poliertem Holz, und alle waren sie in Form und Größe gleich. Eine Inschrift war zu lesen, in vielen verschiedenen Sprachen, jedoch immer mit dem gleichen Text: Schenke Mich Weiter.
In den frühen Morgenstunden des Christtages legte der Schlitten eine perfekte Landung am Nordpol hin. Die Elfen lösten das Geschirr von den Rentieren, und der leere Schlitten wurde in den Hangar geschoben. Die Rentiere marschierten hinter dem Weihnachtsmann und den Elfen, mit hoch erhobenen Geweihen.

Die Weihnachtsfeier am Nordpol dauerte den ganzen Tag und bis in die nächste Nacht. Lichter strahlten, Augen leuchteten, und die Herzen waren voller Freude. Santa war fröhlich wie ein Kind, die Elfen lachten und sangen, und die Rentiere waren stolz und glücklich. Nachdem das letzte Lied verklang, zogen sich die Elfen und Rentiere in ihre Schlafgemächer zurück. Alle bis auf einen.
Rudolph war viel zu aufgeregt um zu schlafen. Es war schon weit nach Mitternacht als er den Weihnachtsmann in seinem Büro aufsuchte. Rudolph schob sein Geweih durch die geöffnete Tür, und fand den Raum erfüllt von Kerzenlicht und dem Duft von Tannenzweigen. Santa sah von seinem Tisch auf, mit einer Lesebrille auf der Spitze seiner Nase.
„Ich hoffe ich störe dich nicht, Boss.“
„Ganz und gar nicht, Rudolph, komm herein. Was für eine schöne Überraschung.“
Rudolph trat in den Raum. Feuer flackerte im Kamin, und die Flammen tauchten den Raum in warme Farben.
Der dicke Mann griff nach einer Zeitung von einem Stapel auf seinem Tisch.
„Ich habe gerade die Kritiken über unseren Flug gelesen.“
„Und was sagen sie?“
„Im Großen und Ganzen nichts Schlechtes, im Gegenteil.“
Santa hielt die Zeitung ins flackernde Licht.
„Wir haben ein paar gute Schlagzeilen gemacht. Der Kurier schreibt: Der Weihnachtsmann steigt wieder auf, und die Süddeutsche hat: Rentier kommt zu Hilfe, was schon näher an der Wahrheit dran ist. Aus London kommt: Claus im letzten Augenblick; ganz schön raffiniert. Natürlich ist nicht jeder erfreut. Gestern schreibt: Der Weihnachtsmann – jetzt ein Sozialist!
Rudolph musste grinsen.
„Ich wette die landen damit auf der Liste der Unartigen.“
„Ach, da waren sie ja schon vorher, mein Junge, schon lange. Aber sag mir, weshalb wolltest du mich sehen?“
„Ich wollte mich bei dir bedanken, Santa. Danke, dass du mir noch eine Chance gegeben hast. Danke, dass du an mich geglaubt hast.“
„Aber Rudolph, in Wahrheit muss ich dir danken, und das tue ich hiermit, aus tiefstem Herzen. Ich war derjenige der das Team auseinandergebracht hat. Mir ist klar geworden, dass wir alle im selben Boot sitzen, oder besser, den selben Schlitten ziehen. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft, das ist die Wahrheit.“
Rudolphs Nase leuchtete im Feuerschein und er hielt sein Geweih in die Höhe.
„Glaubst du, dass wir es geschafft haben? Dass wir Weihnachten gerettet haben?“
„Das wird die Zukunft weisen, mein alter Freund. Was wir jedenfalls geschafft haben ist Zeit zu gewinnen. Nächstes Jahr fliegen wir wieder, wenn das Team es möchte. Kann ich auf dich zählen?“
Rudolph konnte sein Herz in der Brust fühlen.
„Gibt es hier einen Platz für mich? Was ich meine ist, ich möchte Claire und die Kinder bitten zurückzukommen, zurück nach Hause zum Nordpol.“
Der dickbäuchige Mann brach in fröhliches Gelächter aus.
„Ho, ho, ho! Nichts würde mir mehr Freude bereiten, Rudolph. Das hier ist dein Zuhause. Hier wird es immer einen Platz für dich geben, auf ewig.“
Rudolph nickte und drehte sich dabei weg, um die Tränen zu verbergen, die in seinen Augen schimmerten. Als er sich zurückdrehte, lächelte er.
„Vielen Dank, Santa, und Frohe Weihnachten.“
Der alte Mann nickte, sein Gesicht schien röter und fröhlicher als Rudolph es je gesehen hatte.
„Frohe Weihnachten, Rudolph.“



                  

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